Brief aus Berlin

 
Willkommen zu unserem Brief aus Berlin!

Wir beginnen mit der Ausstellung von Jac Leirner in Berlin und präsentieren Ihnen unser Ausstellungsvideo. Dieses Wochenende wird Roman Ondaks performative Arbeit Swap bei Frac Franche-Comté in Besançon zu sehen sein. Wir präsentieren einen Auszug aus dem Gespräch des Künstlers mit Udo Kittelmann über das Werk von 2011. Ann Veronica Janssens hat erneut mit der belgischen Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker und der Tanzkompanie Rosas zusammengearbeitet, deren Performances vom 24. bis 27. März in der Neuen Nationalgalerie in Berlin stattfinden. Wir stellen Ari Benjamin Meyers' groß angelegtes öffentliches Projekt Rehearsing Philadelphia vor, das in der Woche vom 25. März 2022 beginnt und am Samstag, dem 9. April 2022, seinen Höhepunkt findet, und drucken das Manifest des Künstlers ab. Am 25. März wird ein Film von Liam Gillick und Gelitin auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival in Kopenhagen uraufgeführt. In Reutlingen nehmen Tommi Grönlund und Petteri Nisunen an einer Gruppenausstellung zum Thema Zeit teil. Wir nehmen Ryan Ganders neue Auftragsarbeit in Scarborough zum Anlass, einen Blick auf die jüngsten öffentlichen Projekte des Künstlers zu werfen. Isa Melsheimer eröffnet eine Einzelpräsentation auf der Insel Vassière in der Nähe von Limoges.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit unserem Brief aus Berlin!
 

Jac Leirner at Esther Schipper

Ausstellungsansicht: Jac Leirner, Us Horizon, Esther Schipper, Berlin, 2022. Photo © Andrea Rossetti
Am vergangenen Wochenende wurde die erste Einzelausstellung von Jac Leirner in der Galerie mit neuen großformatigen Arbeiten eröffnet. Hier stellen wir das Werk Us Horizon vor, das der Ausstellung ihren Titel gab.

Us Horizon präsentiert eine Doppelreihe von Tüten - in der oberen Reihe richtig herum, in der unteren Reihe auf dem Kopf stehend -, die in Augenhöhe an mehreren Wänden des Ausstellungsraums angebracht ist. Die Arbeit besteht aus 220 einzelnen Vintage Plastiktüten. Die Reihenfolge ist nach formalen Merkmalen wie Form, Farbe und Schriftart geordnet. Als eine Reihe von grafischen Konstellationen und Gruppen von Referenzen reihen sich die Tüten in eine logische Abfolge: auf kreisförmige Logos folgen quadratische, die wiederum von monochromen Formen abgelöst werden, und so weiter.

Auch wenn die Künstlerin in der Vergangenheit autobiografische Deutung konsequent zurückgewiesen hat, lassen sich natürlich Bezüge herstellen: Die Taschen reichen von den 1980er Jahren bis heute und zeugen von Leirners Liebe zu Büchern und der Musik, verweisen auf Ausstellungen, an denen sie teilgenommen oder die sie besucht hat, auf Museen, in denen sie ausgestellt hat oder die ihre Werke in ihren Sammlungen führen. Andere Taschen der umfangreichen Sammlung wurden ihr von Freunden geschenkt.

Sowohl die neue lineare Präsentation als auch die Quellen der Tüten, und die sequentielle Erfahrung der BesucherInnen, verstärken die Beziehung des Werks zur Sprache - eine häufige Referenz für Leirner. Die Gleichzeitigkeit des Sehens und Lesens wird durch ein perfektes Gleichgewicht zwischen Singularität und Serialität, d. h. zwischen jeder einzelnen Tüte und der gesamten Gruppe, ermöglicht: Jeder Gegenstand scheint gleichwertig zu sein, auch wenn er einen integralen Bestandteil der Sequenz darstellt.

Auch formal verweist die Präsentation des neuen großformatigen Werks auf die Horizontlinie einer Landschaft, die sich in diesem Fall aus Institutionen, künstlerischen, literarischen und musikalischen Referenzen, dem Werk von KünstlerInnen und Freunden zusammensetzt. Wie der Titel andeutet, besteht der Horizont aus all dem, was uns ausmacht. Und er ist der Ort, an dem wir nach der Zukunft Ausschau halten.
Ausstellungsansichten: Jac Leirner, Us Horizon, Esther Schipper, Berlin, 2022. Photos © Andrea Rossetti
Die Werkreihe hat ihren Ausgangspunkt im Jahr 1985, als die Künstlerin begann, die Tüten zu sammeln, bevor sie 1989 erstmals auf der Biennale von São Paulo und im folgenden Jahr auf der 44. Biennale di Venezia ausgestellt wurden. Damals wurden die zentralen Werke der Serie als riesige gesteppte Flächen präsentiert, Tüte an Tüte, die Wände und in einigen Fällen auch den Boden bedeckend. Darüber hinaus fertigte die Künstlerin Skulpturen aus Gruppen von leicht gepolsterten, zusammengenähten Tüten. Spätere Arbeiten, die sich zum Teil ausschließlich mit Tüten aus Kunstinstitutionen beschäftigen, wurden als Raster an der Wand ausgestellt, zuletzt Museumbags (1985/2019) im Museum Ludwig anlässlich der Verleihung des Wolfgang-Hahn-Preises 2019 an die Künstlerin.
Jac Leirner, Nomes [Names], 1990, Plastic bags, polyester foam, buckram, 500 x 640 cm.
Ausstellungsansicht: Aperto 90. 44ª Biennale di Venezia, 1990. Photo © the artist
Eine weitere Arbeit dieser neuen Serie ist Us Artists, welche sich durch eine unerwartete, erzählerische und poetische Qualität unter Leirners Gruppierungen von Vintage Plastiktüten auszeichnet. In zwei Reihen auf Augenhöhe installiert, versammelt das Ensemble eine Gruppe von KünstlerInnen, zu der sich Jac, wie der Titel verrät, selbst hinzugesellt. In der oberen Reihe befinden sich Tüten aus Ausstellungen mit Werken von Vincent van Gogh, Auguste Rodin, Felix Gonzalez-Torres und Isa Genzken sowie - in einem scherzhaften Akt der Selbstreferenz - eine Tüte eines Autohauses namens Jac Motors Inesperado (dt. unerwartet). Die untere Reihe besteht aus Tüten ohne erkennbare Information: eine hat ein Tarnmuster, die anderen sind monochrom.
Jac Leirner, Us Artists, 1985-2022, set of 9 plastic bags, 182 x 182 cm (variable). Photo © Andrea Rossetti
Jac Leirner, Us Artists, 1985-2022, set of 9 plastic bags, 182 x 182 cm (variable) (Detail). Photo © Andrea Rossetti
2008 began Jac Leiner ihre Serie Void (Portugiesich: Osso, Deutsch: Leere/Hohlraum) Ausgehend von ihrem bahnbrechenden Werk, das aus alten Plastiktüten besteht, verändert die Serie Voids die einzelnen Tüten, indem sie jede Schrift entfernt. Was übrig bleibt, ist von geometrischen Formen geprägt - sowohl von denen, die durch die übrig gebliebene Struktur, das Muster und die Farben der Taschen entstehen, als auch von denen der ausgeschnittenen Hohlräume, in denen identifizierende Schriften und Logos entfernt wurden.

Oft sind es die Henkel - entweder als Anhängsel aus Hartplastik oder Gummi oder als doppelte Trageschlaufen, die aus dem rechteckigen Taschenkörper herausragen -, die uns die frühere Funktion des Objekts erkennen lassen, auch wenn die spezifischen Identifikationsmerkmale entfernt wurden. An den Rändern der ausgeschnittenen Teile erhaschen wir einen Blick auf den Polyesterschaum im Inneren der Tasche.

Das Spiel zwischen der körperlichen Präsenz, die durch die leichte Polsterung entsteht, und der hohlen Öffnung, die den Blick ins Innere, durch die Tasche hindurch und auf die darunter liegende Unterlage freigibt, erzeugt eine fesselnde Spannung, ähnlich der Dynamik beim Betrachten von abstrakter Malerei und Skulptur. Die selbstbewusste Präsenz von Jac Leirners Serie Voids beruft sich auf die Geschichte der Abstraktion, der Pop- und der Konzeptkunst sowie auf das Erbe des Readymade und den Prozess der Umwandlung eines weggeworfenen Alltagsgegenstands in ein Kunstwerk.
Jac Leirner, Void 12, 2008, plastic bags, polyester foam, Plexiglas, 57,2 x 94,7 x 3,5 cm (framed). Photo © Andrea Rossetti
Video by Art/Beats
 

Roman Ondak, Swap

Performance: 11 ROOMS, Manchester International Festival, 2011. Photo © Alan Seabright
Am kommenden Wochenende wird Roman Ondaks Swap, 2011, Teil eines zweitägigen Programms mit performativen Werken aus der Sammlung sein, die im Frac Franche-Comté in Besançon gezeigt werden.

Swap verbindet Kunst mit dem alltäglichen Akt des Tausches. Der Künstler wählt einen Performer aus, der ähnlich einem Marktverkäufer hinter einem Tisch sitzt. Der Performer wählt einen Gegenstand aus, der auf dem Tisch liegt. Der Besucher hat dann die Möglichkeit, den Gegenstand gegen etwas anderes zu tauschen- eine Münze oder eine Uhr, eine Feder oder ein Stück Papier. Der Performer setzt eine Kette von Tauschvorgängen in Gang, indem er jeden Besucher auffordert, einen Gegenstand mit dem auf dem Tisch liegenden zu tauschen. Jeden Tag bleibt das letzte Objekt bis zum nächsten Morgen auf dem Tisch liegen. Am Ende der Ausstellung verlässt der letzte Performer die Ausstellung mit dem letzten Objekt des Tages.

Die Arbeit führt zu völlig unvorhersehbaren Ergebnissen und ist von der Beteiligung des Publikums an dem Moment abhängig. Während der Aufführung und auch nach dem Ende der Ausstellung werden die während der Aufführung getauschten Objekte in die reale Welt getragen. Diese Dynamik, die sich aus elementaren Handlungen ergibt, ist charakteristisch für Ondaks Performances: lebendige Kunstwerke, die auf die Komplexität des menschlichen Verhaltens reagieren.

Im Folgenden drucken wir Auszüge aus dem Gespräch von Roman Ondak mit Udo Kittelmann ab. Das vollständige Interview finden Sie in Roman Ondak, Notebook, ed. Deutsche Bank, erschienen bei Hatje Cantz, 2012.
Performance: Kaldor Public Art Project 27; 13 ROOMS, 2013. Photo © Jamie North (Kaldor Public Art Projects)
Roman Ondak: Bei Swap verschwindet das von einer Performance erzeugte Bild in der Wirklichkeit, was bei vielen meiner Performances passiert. In diesem Fall sitzt ein Mann hinter einem kleinen viereckigen Tisch, und was sich ereignet, ist eine unaufhörliche Transformation durch den Tausch von Objekten. Der Performer wählt für den Anfang einen Gegenstand aus, den er auf den Tisch legt, bevor der erste Besucher den Raum betritt. Dieser Besucher bekommt die Möglichkeit, den Gegenstand gegen irgendetwas einzutauschen, das er oder sie dafür abgeben mochte, und löst damit eine endlose Abfolge aus: Der Performer bittet den nächsten Besucher, einen Gegenstand gegen den einzutauschen, der auf dem Tisch liegt, und so fort.

Udo Kittelmann: Wir befinden uns derzeit in einer Krise, in einer Zeit komplexer und schwieriger ökonomischer Situationen. Könnte der Austausch eine Art Modell für eine neue Vorstellung von Tauschwirtschaft sein?

RO: Der Tausch wird im Allgemeinen von irrationalen Entscheidungen geleitet, die von Berechnungen auf der Basis monetärer Werte weit entfernt sind. Es war sehr interessant zu beobachten, wie spontan sich Menschen an den Tauschvorgängen beteiligten und dabei leicht vergaßen, dass das, was sie zum Tausch anboten, vielleicht zehn Mal mehr wert war als das, was zu diesem Zeitpunkt auf dem Tisch lag.

UK: Man konnte etwas daraus lernen.

RO: Nachdem ich es live beobachtet habe, glaube ich, dass das zutrifft. Davor hatte ich nur ungefähre Vermutungen, wie die Reaktionen des Publikums aussehen konnten. Die Situation ist überraschend, vor allem, wenn man durch eine Kunstausstellung geht—vielleicht hat man seinen Mantel oder seine Tasche durchsucht, um etwas zu tauschen, während man möglicherweise denkt, dass man eigentlich nichts hat ...

UK: ... wovon man sich trennen könnte ...

RO: ... trennen könnte. Genau. Und was man verdienen könnte.

UK: Wenn man auf Menschen großen Druck ausüben und sie dazu drängen würde, sich von immer mehr Dingen zu trennen, die ihnen wirklich etwas bedeuten, bin ich mir sicher, dass am Ende nur noch eine Sache übrigbleibt, die einem wirklich wichtig ist. Das ist wahrscheinlich das Einzige, was man braucht, um glücklich zu sein, all die anderen Dinge braucht man nicht.

Ich wollte dich auch fragen, ob es etwas gibt, das du von deinen Besuchern erwartest. Ich könnte mir vorstellen, dass du sie nicht mit etwas zurücklassen willst, das sie überhaupt nicht verstehen.

RO: Definitiv nicht; das versteht sich von selbst. Mein Ziel ist, Arbeiten zu machen, die kompliziert und einfach zugleich sind. Es ist mir wirklich wichtig, dass die Leute verstehen können, was ich mit den Arbeiten beabsichtige.
Performance Kaldor Public Art Project 27; 13 ROOMS, 2013, Photo © Jamie North (Kaldor Public Art Projects)
Udo Kittelmann: Die meisten konzeptuellen Arbeiten wirken sehr kühl, denke ich, und sind nicht besonders emotional. Deine Arbeiten haben eine Art Schönheit, und auch das ist, glaube ich, eher selten. Schönheit bedeutet für mich, dass es da etwas gibt, das man wirklich gerne betrachtet und erlebt. lch weiß nicht, ob du je darüber nachgedacht hast, warum deine Arbeiten so schön sind.

Roman Ondak: Natürlich versuche ich, Schönheit einzubringen, manchmal vielleicht eine andere Art von Schönheit. Du wirst es nicht glauben, aber mein Ausstieg aus der Malerei durch objektbasierte und später dann immaterielle Kunst in den ausgehenden 1990er-Jahren war geprägt von einer skeptischen Phase, in der ich mich fragte, ob es Sinn hat, Kunst zu machen oder nicht, und für wen. Diese Fragen wurzelten offenkundig in der Situation vor Ort, in einem Land, das sich in einem ständigen Wandel befand, aber ich wollte die Kunst nie aufgeben. Eine meiner damaligen Überlegungen, die mich zu den Kooperationsideen brachte, Menschen aus meinem engsten Umfeld einzubeziehen, war: Es könnte einen anderen Weg geben, Menschen, die sich nur selten mit zeitgenössischer Kunst befassen oder die sich nie dafür interessiert haben wie die meisten Mitglieder meiner Familie, durch bestimmte Ideen zu ihr hinzuziehen, so dass sie sich auf ganz selbstverständliche Weise an ihrem Entstehungsprozess beteiligen. Dadurch eröffnete sich für mich ein ganz neues Feld. Meine Konzepte beruhten also nicht auf der Schaffung von Bildern, die Schönheit darstellen, sondern auf der Schaffung von Ideen, in deren Kern es möglicherweise eine unsichtbare Schönheit gibt. Nach diesen Möglichkeiten habe ich wirklich geforscht.

UK: Hinzu kommt noch, dass unter Schönheit wohl jeder etwas anderes versteht. Doch die Art von Schönheit, die du erzeugst- die man festhalten und in Gedanken mit nach Hause nehmen und für immer bewahren kann - ist etwas sehr Seltenes. Sie ist wie ein Gedicht; es gibt nur sehr wenige Gedichte, an die man sich sein Leben lang erinnert. Man kann einige Gedichte auswendig lernen und sie für immer behalten.

RO: So wie ich es sehe, bringt jeder Tag zahllose flüchtige Momente von Schönheit mit sich, aber um den Raum zu schaffen, um wenigstens einige von ihnen zu bemerken ... also, mich interessierte, wie weit man diese Momente verfolgen und den richtigen zur genaueren Betrachtung auswählen kann.
Video by Vernissage TV
 

Ari Benjamin Meyers, Rehearsing Philadelphia

Photos © Conrad Erb
Rehearsing Philadelphia ist ein von Ari Benjamin Meyers konzipiertes und gemeinsam vom Curtis Institute of Music und dem Westphal College of Media Arts & Design der Drexel University produziertes und präsentiertes öffentliches Großprojekt, das untersucht, wie wir als Stadt durch musikalische Proben zusammenfinden können. Der traditionelle musikalische Vorbereitungsprozess konzentriert sich auf das Proben als Mittel zur Erreichung von Perfektion, die dann in der Aufführung wiederholt wird. Das ist nicht die Art und Weise, wie wir das moderne Leben in einer sich schnell verändernden Welt des sozialen Umbruchs leben. Die Zukunft wird geprobt, nicht perfektioniert. Rehearsing Philadelphia untersucht die Abläufe von Proben, die es Menschen ermöglichen, gemeinsam zu agieren und die Kraft zu haben, neue Realitäten zu schaffen.

Rehearsing Philadelphia wird aus vier Aufführungsmodulen bestehen - Solo, Duett, Ensemble und Orchester. Im Rahmen dieser Module werden die neu in Auftrag gegebenen Werke live aufgeführt und beinhalten Begegnungen mit dem Publikum an verschiedenen öffentlichen und auch privaten Orten in der Stadt, darunter das Rathaus von Philadelphia, der School District of Philadelphia, das Polizeipräsidium von Philadelphia, die Perelman School of Medicine der University of Pennsylvania, der Cherry Street Pier und andere. Begleitend zu den Live-Performances wird die künstlerische Partnerin und Strategin für Digitales, Vanessa Newman, einen parallelen digitalen Raum gestalten, in dem das Publikum öffentliche Kunst in digitaler Form erleben kann.

Als Teil des Meta-Score hat Ari Benjamin Meyers KünstlerInnen eingeladen, sich zu beteiligen und neue Werke zu schaffen, darunter Ei Arakawa, Marshall Allen (Sun Ra Arkestra), Tyshawn Sorey, Zoë Keating, CA Conrad, Xenia Rubinos, Ursula Rucker und Ann Carlson.

Das Projekt beginnt in der Woche vom 25. März 2022 und findet seinen Höhepunkt mit den Generalproben aller vier Phasen am Samstag, den 9. April 2022. Weitere Informationen zu Aufführungsdetails, Teilnehmern und dem virtuellen Erlebnis finden Sie unter rehearsingphiladelphia.com.

Lesen Sie im Folgenden Ari Benjamin Meyers' The Public Orchestra, A Manifesto
Photo © Conrad Erb
Das Öffentliche Orchester, ein Manifest

Anmerkung: Das Wort Orchester hat seine frühesten bekannten Wurzeln in dem Sanskritwort ऋघायiत (ghāyati).

Das Wort bedeutet, vor Zorn zu zittern, zu wüten, zu toben.

Das Öffentliche Orchester strebt danach, in allen Aspekten so vielfältig zu sein wie die Stadt, in der es spielt.

Ein klanglich vielfältiges Orchester ist ein vielfältiges Orchester.

Die Mitgliedschaft im Orchester basiert nicht auf Fähigkeiten, sondern auf Begeisterung und Engagement. Vielfalt in allen demografischen Bereichen und Heterogenität, die für die Gastgeberstadt repräsentativ ist, sind die Leitprinzipien für die Zusammensetzung und Instrumentierung des Orchesters.

Die einzige musikalische Voraussetzung ist der Besitz eines Instruments oder der Zugang zu einem Instrument, das einigermaßen (oder überhaupt) beherrscht wird. Die Stimme ist ebenfalls ein Instrument. Es ist nicht notwendig, Noten lesen zu können.

Eine genreübergreifende Musikausbildung und die Ausweitung des Zugangs zu allen Instrumenten ist ein zukünftiges und ständiges Ziel des Öffentlichen Orchesters

Alle Proben sind öffentlich.

Alle Aufführungen sind kostenlos.

Die Proben haben Priorität gegenüber den Aufführungen.

Neben der Einstudierung musikalischer Werke sind die Proben auch Foren für Gespräche, Diskussion und Austausch. Proben können auch ein gemeinsames Essen, einen Vortrag, eine Filmvorführung sein.

Das Öffentliche Orchester ist keinem Repertoire oder vermeintlichen Perfektionsstandards verpflichtet. Das Öffentliche Orchester ist nicht an ein bestimmtes Genre oder eine Tradition gebunden, sondern steht in der Schuld der Vielzahl von Genres und Traditionen, die es in einem bestimmten Bereich gibt.

KomponistInnen und andere KünstlerInnen werden eingeladen, ein neues Repertoire für dieses neue Körperschaf zu schaffen.

Das Repertoire wird von allen Öffentlichen Orchestern gemeinsam genutzt.

Das Orchester hat eine Spielzeit; die Mitgliederzahl und die Proben sollten in jeder Spielzeit mehr oder weniger konstant bleiben.

Neue Öffentliche Orchester werden in Zusammenarbeit mit den bestehenden Öffentlichen Orchestern gegründet. Nachdem sich das Orchester für mindestens eine Spielzeit etabliert hat, übernehmen die Orchestermitglieder idealerweise die Kontrolle über alle Entscheidungen. Es kann ein Beirat eingerichtet werden.

Das Öffentliche Orchester findet auf lokaler Ebene statt, existiert aber als großer Verbund aller Öffentlichen Orchester.

Das erste Öffentliche Orchester wurde im Jahr 2022 in Philadelphia gegründet.

-Ari Benjamin Meyers, Berlin 2021
Photo © Conrad Erb
 

Ann Veronica Janssens

Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, Berlin-Tiergarten. © Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker
In der Neuen Nationalgalerie präsentiert Anne Teresa De Keersmaeker Dark Red: eine fortlaufende Serie von Choreografien für Museen. Der weitläufige, transparente Raum der ikonischen Nationalgalerie bildet die Bühne für eine neue Kreation in Zusammenarbeit mit den Choreographen und Tänzern Cassiel Gaube und Soa Ratsifandrihana, der Flötistin Chryssi Dimitriou und Ann Veronica Janssens, mit welcher Anne Teresa De Keersmaeker bereits in der Vergangenheit häufig zusammengearbeitet hat.

An vier Tagen bespielt die belgische Tanzkompanie Rosas die Ausstellungshalle der Neuen Nationalgalerie mit einer eigens für das Gebäude entwickelten Performance. Die BesucherInnen erleben so ein einzigartiges Zusammenspiel von Architektur, Skulptur, Musik und Tanz. Mit ihrer speziell für unterschiedliche Museumsräume konzipierten Serie „Dark Red“ war Rosas zuletzt im Kölner Kolumba und in der Fondation Beyeler in Basel zu sehen.

Ausgangspunkt für die Performance ist das Motiv des Atmens, das seit langem ein wichtiges choreografisches Prinzip De Keersmaekers ist und vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie eine neue Relevanz bekommt. Live aufgeführt wird die L'Opera per Flauto von Salvatore Sciarrino, in der das lebensnotwendige Bedürfnis des Atmens zum musikalischen Ausdruck wird. Angelehnt an den Vorgang des Ein- und Ausatmens bewegen sich die TänzerInnen in der zyklischen Bewegung einer sich öffnenden und schließenden Spirale durch den Raum.

De Keersmaeker stellt in der für die Neue Nationalgalerie konzipierten Performance erstmals einen starken Dialog mit der Architektur in den Vordergrund. Die Choreografie konfrontiert die architektonische Strenge mit dem tanzenden, atmenden Körper, wodurch die BesucherInnen den berühmten Museumsbau auf eine vollkommen neue Weise erfahren.

Dark Red wurde 2019 als fortlaufende Serie von selbstreflexiven Performances konzipiert, die den Tanz aus der Black Box in den White Cube tragen. Es ist das erste Mal, dass ein starker Dialog mit der Architektur im Mittelpunkt steht. Die neue Choreografie basiert auf der Konfrontation zwischen der architektonischen Logik der Konsolidierung und der Kontingenz von Körper und Zeit. Dark Red - Neue Nationalgalerie Berlin misst die Geometrie der Utopie gegen die Utopie der Geometrie und konfrontiert sie mit dem tanzenden, atmenden Körper.

Anne Teresa De Keersmaeker (*1960) konzipierte 1980 ihre erste Performance, nachdem sie Tanz an der Mudra School in Brüssel und an der Tisch School of the Arts in New York studiert hatte. 1983 gründete sie ihre Tanzkompanie Rosas, mit der sie ein breit gefächertes Werk geschaffen hat, das sich mit den musikalischen Stilen verschiedener Epochen auseinandersetzt. De Keersmaekers choreografische Praxis bezieht sich auf formale Prinzipien aus der Geometrie und soziale Beziehungen und bietet eine einzigartige Perspektive auf die Bewegung des Körpers in Raum und Zeit.

Die Aufführungen finden vom 24. bis 27. März 2022 während den regulären Öffnungszeiten des Museums statt.
 

Ryan Gander

Ryan Gander, We are only human (Incomplete sculpture for Scarborough to be finished by snow), 2022, Low carbon concrete, Eco-Cork, 2275 x 2110 x 2420 mm. © Ryan Gander / VG Bild-Kunst, Bonn, 2022; Courtesy Ryan Gander Studio; Photograph by Jules Lister
Ryan Ganders We are only human (Incomplete sculpture for Scarborough to be finished by snow) wurde von Invisible Dust, Yorkshire Wildlife Trust und English Heritage für die Steilküste von Scarborough Castle in Auftrag gegeben.

Die Skulptur dient auch als Sitzgelegenheit und als Aussichtspunkt auf die Tierwelt der Klippen und den Blick aufs Meer. Man hofft, dass sie einen Wegweiser zu einer unglaublichen Küstenaussicht und einen Anziehungspunkt für Anwohner und Besucher gleichermaßen darstellt.

Inspiriert von Strukturen, die zum Schutz vor Küstenerosion eingesetzt werden, wurde das Design der Skulptur so angepasst, dass ihre Form nur dann vollständig ist, wenn sie mit Schnee bedeckt ist, was aufgrund des Klimawandels immer unwahrscheinlicher wird. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die wichtige Rolle des Meeres bei der Aufnahme von Kohlenstoff und der Verlangsamung des Klimawandels und der lokalen Küstenerosion. Die Skulptur wird aus einem innovativen, kohlenstoffarmen Material hergestellt, das recyceltes Glas und Kalkstein enthält.

Die Skulptur ist Teil von Wild Eye, einem neuen, langfristigen Kunst- und Naturprojekt für die Küste von North Yorkshire, das die Menschen vor Ort und die Besucher mit der unglaublichen Tierwelt der Region in Berührung bringen will, und zwar durch ein Programm kooperativer Kunstprojekte und ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm für die Gemeinde.

Paradise Kortrijk 2021 – Triennial for Contemporary Art, Kortrijk, 2021. Photos © Steven Decroos
Im Rahmen der Kortrijk Triennale für zeitgenössische Kunst 2021 setzte Ryan Gander seine Aussage "(...) time and attention are our greatest assets (...)" in Installationen um, die überall in der Stadt zu sehen waren.

Im Stadtzentrum, auf dem Grote Markt: Schwarzer Automat mit Steinen und schwarzen Jesmonitabgüssen

Bei den Werken Spending Time (2021) und Saving Time (2021) handelt es sich um zwei schwarze Verkaufsautomaten, an denen man Gegenstände zum Einheitspreis von zwei Euro erwerben kann. In Anspielung auf das Thema "Ökonomie der Zeit, des Geldes und der Aufmerksamkeit" kann jeder, der Geld einwirft, Besitzer eines Steins werden, den die Kinder des Künstlers am Strand gesammelt haben, oder eines Abgusses dieser Steine aus schwarzem Jesmonit, um den massenproduzierte Uhren gewickelt sind, oder Porzellan-Nachbildungen von Steinen, die mit einem Geotag mit GPS-Koordinaten oder der ISBN eines Buches oder Zahlen, die einen wichtigen Moment der modernen Geschichte anzeigen, geprägt sind.

Im Stadtzentrum und überall in der Stadt: Großflächige öffentliche Beschilderung

Advice from the artist's father (2021) zeigt eine Reihe von öffentlichen Schildern in der Stadt, auf denen ein Spruch zu lesen ist, den der Vater des Künstlers oft wiederholte, als der Künstler noch ein Kind war, und der die Betrachter an seine ursprüngliche Aussage erinnert, "unsere Zeit zu schätzen und zu besitzen".

Im Stadtzentrum und überall in der Stadt: Bronzeskulpturen, variable Maße

In Search of Time (2021) besteht aus zehn Bronzeskulpturen. Nach demselben Motiv wie die Jesmonitabgüsse im Automaten hat Gander diese Bronze-Editionen an obskuren, ungewöhnlichen Orten in der ganzen Stadt aufgestellt. Eine Karte führt vom Stadtzentrum aus zu diesen Orten, an denen man normalerweise achtlos vorbeigehen würde - ein kurzer Spaziergang. Wie auf einer Schatzsuche lädt Gander ein, urbane Geschichten und vergessene Teile der Stadt zu entdecken.

Im Oxfam Bookshop: Gebrauchte Bücher mit Briefmarken, variable Maße.

Mit Within your own margins (2021) bietet Gander im Oxfam Bookshop in Kortrijk eine Reihe von gebrauchten Büchern zum Verkauf an. Jedes Buch trägt den Stempel des Künstlers in schwarzer Tinte mit einem von zwei Texten: "Attention is your greatest asset" oder "Within this volume time and space will be radically transformed by you".
Ryan Gander, From five minds of great vision (The Metropolitan Cathedral of Christ the King disassembled and reassembled to conjure resting places in the public realm), 2018 in 'Time moves quickly', Liverpool Biennial, 2018. © Ryan Gander; Courtesy Ryan Gander Studio; Photograph by Rob Battersby
Im Rahmen der Liverpool Biennale 2018 präsentierte Ryan Gander in der Bluecoat Gallery ein neues Großprojekt mit dem Titel Time Moves Quickly. Gander arbeitete mit fünf Kindern der Knotty Ash Primary School in Liverpool - Jamie Clark, Phoebe Edwards, Tianna Mehta, Maisie Williams und Joshua Yates - zusammen, um eine Reihe von Kunstwerken und einen Film zu produzieren, der die Aktivitäten in den Workshops untersucht. Das Projekt ist von der Montessori-Pädagogik inspiriert, die auf selbstbestimmten Aktivitäten, praktischem Lernen und gemeinschaftlichem Spiel basiert. Neben der Präsentation in Bluecoat schufen Gander und die Kinder ein neues öffentliches Kunstwerk für die Stadt. Fünf sitzbankähnliche Skulpturen wurden auf dem Platz hinter der Liverpool Metropolitan Cathedral aufgestellt.

Für das Projekt 2018 zerlegte Ryan Gander ein Modell der modernistischen Kathedrale des Architekten Frederick Gibberd in eine Reihe von einfachen "Bausteinen". Die Blöcke wurden dann von Schulkindern der ausgewählten örtlichen Schulen in verschiedenen Konfigurationen wieder zusammengesetzt. Die von Gander und den Kindern erstellten Modelle wurden dann in größerem Maßstab reproduziert, um diese öffentliche Sitzgruppe auf dem Gelände der Kathedrale zu schaffen.
Ryan Gander, The Green and the Gardens, 2019, Cambridge Biomedical Campus
© Ryan Gander; Courtesy Ryan Gander Studio; Photographs by Charles Emerson
Die folgenden fünf Skulpturen sind Teil des Projekts: 'Inside And Outside', 'Rain Or Shine', 'Solid and Hollow', 'Public and Private', 'Open And Closed'
The Green & The Gardens wurde als öffentlicher Raum für alle Bewohner des Cambridge Biomedical Campus geschaffen - Patienten, Mitarbeiter und Besucher.

Unter der Leitung von Ryan Gander und in Zusammenarbeit mit den Landschaftsarchitekten von Gillespies verwandelt das Konzept den Raum in ein grünes Herz des Campus, einen gemeinsamen Ort für alle. Gemeinsam entwickelten sie das Design, wählten die Bepflanzung, das Mobiliar und die Beleuchtung aus. Gander integrierte skulpturale Elemente: farbige Zelte, die nachts leuchten, ein offenes Tor, einen Zaunpfahl und eine Hinweistafel für die Allgemeinheit.

The Green ist eine offene, kreisförmige Grünfläche für die Campus-Gemeinschaft. Sie kombiniert Rasen, Bäume, Sitzgelegenheiten, Skulpturen und Beleuchtung. Es handelt sich um einen flexiblen Raum für die individuelle Nutzung oder für Gruppenveranstaltungen und -aktivitäten, der an die "common grounds" in den Städten und Dörfern Englands erinnert, wo man früher zur persönlichen und gemeinschaftlichen Erholung spazieren ging.
Bei den Gärten handelt es sich um sogenannte Regengärten, in denen das von Gebäuden, Bürgersteigen und anderen befestigten Flächen abfließende Regenwasser aufgefangen, zwischengespeichert, gereinigt und mit Hilfe der Kraft der Pflanzen langsam wieder in den Boden oder das natürliche Abwassersystem eingeleitet wird. Auf diese Weise entsteht ein Bereich mit kleineren Grünflächen für Einzelpersonen und Gruppen. Er kombiniert Wildblumenbepflanzung, Obstbäume, Picknicktische, Trinkwasserbrunnen, Skulpturen und Beleuchtung.
 

Grönlund Nisunen

Grönlund-Nisunen, Large Movement, 2013, stainless steel, glass, clock movement, 4 x 12 x 12 cm. Photo © Andrea Rossetti
Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Kein Konzept prägt unseren Alltag so sehr wie dasjenige der Zeit: Wir benötigen sie zur Selbstverortung und für jeden Planungsprozess. Niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte wurde Zeit als so wertvoll erachtet und stand die Qualität, wie sie verbracht wird, derart im Fokus ökonomischer Erfassung und sozialer Bewertung wie heute. Dabei ist Zeit an sich nicht wahrnehmbar, sondern kann lediglich als Verhältnis zwischen dem Jetzt, dem Vorher und dem Nachher betrachtet werden. Zwar ist ihr Verlauf objektiv messbar, ihr Erleben hingegen hängt von individuellen Erwartungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen ab. Zeit verrinnt ohne Absicht und Plan und führt dabei alles unabwendbar in den Zustand des Vergangen-Seins. Es ist die Vergangenheit – nicht die Zukunft – die vor uns liegt, als Haufen von Relikten und Spuren der Menschheit. Heute sammelt sich festgehaltene Vergangenheit in scheinbar ort- und zeitlosen digitalen Datenbanken und auch Kunstwerke sind in Form von Fotos oder Videos mobil geworden und rund um die Uhr abrufbar.

Mit der Zeit hat sich die Kunst schon immer befasst. Im 21. Jahrhundert scheint es ihr dabei allerdings weniger um Bilder zukünftiger Beschleunigungen als um Entwürfe zur Langsamkeit, Dehnung, Wiederholung und zum Stillstand von Zeit zu gehen. Die in der Ausstellung Vom Verrinnen. Zeitkonzepte der Gegenwartskunst im Kunstmuseum Reutlingen | konkret präsentierten Werke von 13 internationalen KünstlerInnen schärfen das Bewusstsein dafür und machen das Verrinnen erlebbar. So gewähren einige Werke Einblicke in ihren eigenen Entstehungsprozess, andere thematisieren kinetische oder zeitbasierte Prozesse aus Licht, Ton, Gravitation und anderen physikalischen Phänomenen. Manche der beteiligten KünstlerInnen untersuchen, auf welche Weise fotografische Aufnahmen vergangene Einzigartigkeit wiederaufleben lassen können und welche Rolle dabei erinnerte Bilder spielen. Andere setzen sich mit der Angst vor dem Tod auseinander oder thematisieren Gegensätze zwischen Jugend und Alter. Ganz konkret wahrnehmbar wird das Verrinnen der Zeit, wo tageszeitlich veränderte Licht- und Farbwirkungen in der Natur festgehalten werden. Anstatt also den Widerspruch zwischen normativer Zeit und erlebter Zeitlichkeit auflösen zu wollen, scheinen die ausgewählten KünstlerInnen eher einem philosophischen Diktum von Gilles Deleuze zu folgen: Als stets im Werden befindliche Individuen können Menschen mit den Bedingungen ihres Lebens und Daseins nur dann experimentieren, wenn sie den Fluss der Zeit erkennen.

Kurator: Holger Kube Ventura
Zur Ausstellung erscheint der Katalog Vom Verrinnen. Zeitkonzepte der Gegenwartskunst / On Trickling Away. Concepts of Time in Contemporary Art.
Ausstellungsansicht: Vom Verrinnen. Zeitkonzepte der Gegenwartskunst / On Trickling Away. Concepts of Time in Contemporary Art, Kunstmuseum Reutlingen, 2022. Photo: H. Kube Ventura © VG Bild-Kunst Bonn, 2022. Im Vordergrund, Falling Water, 2019, ein vertikales gläsernes Rohr, das zu einem Drittel mit destilliertem Wasser und zu zwei Dritteln mit Silikonöl gefüllt ist. Das Wasser am Boden wird mittels einer kleinen digital gesteuerten Pumpe hochgepumpt und sinkt als kleine Tröpfchen durch das Silikonöl nach unten.
 

Isa Melsheimer

Isa Melsheimer, Metabolit 12, 2020, ceramic, glaze, 44,5 x 55 x 25 cm. Photo © the artist
Die Einzelausstellung von Isa Melsheimer im Centre international d'art et du paysage, das von Aldo Rossi und Xavier Fabre gestaltet wurde, erforscht das architektonische und kulturelle Erbe der Postmoderne anhand von neuen Skulpturen, Textilarbeiten und Installationen, die das Organische und Anorganische in einzigartigen Formen miteinander verbinden.

In einer neuen Serie von großformatigen Keramikarbeiten lässt sich Melsheimer von der Pflanze Welwitschia mirabilis inspirieren, die in der Namib-Wüste in Namibia und Angola wächst. Benannt nach dem ersten Europäer, der die Pflanze 1859 beschrieb, ist Welwitschia in das Erbe der europäischen Expeditionen des 18. und 19. Jahrhunderts eingeschrieben, bei denen Pflanzenexemplare gesammelt, taxonomiert und in botanische Sammlungen aufgenommen wurden. Im Fall der Welwitschia wurde also ein doppelter Anspruch erhoben - auf die Pflanze selbst und auf das Recht, sie zu benennen.

Melsheimers Arbeiten zeigen Welwitschia-ähnliche Formen, die allmählich mit architektonischen Elementen verschmelzen. Mit ihren tentakelartigen Blättern, die die gebauten Formen verflechten und allmählich verschlingen, scheinen die Pflanzen mit der Architektur zu verschmelzen und vielleicht ihre eigenen Organisationsprinzipien und ihr Recht auf Behauptung zu verkünden.

Die kombinierte skulpturale Geste von Melsheimers Arbeiten, die durch die Verflechtung der horizontalen Blätter mit den vertikalen Wänden an Höhe gewinnen, erinnert an eine andere Serie von Werken, die ihr eigenes Erbe der Entnahme und des umstrittenen Besitzes haben: die Parthenon-Marmore, die sich heute in der Sammlung des Britischen Museums befinden. Durch diese formale Geste nimmt Melsheimer indirekt Bezug auf den historischen Akt der kolonialen Aneignung und des Anspruchs sowie auf die anhaltenden Streitigkeiten um die Rückgabe.

Für die Künstlerin findet dieser historische Akt der Aneignung ein Echo in der Postmoderne, wo stilistische oder theoretische Zitate aus der Vergangenheit dekontextualisiert und in neuer Form nebeneinander gestellt werden; eine Erneuerung der Aneignung als Plünderung.

Das Ensemble der Werke in der Ausstellung deutet auf eine Abrechnung mit dem Erbe der Moderne sowie auf eine Neukalibrierung der menschlichen Beziehungen zur Umwelt hin. Pflanzen und andere nicht-menschliche Spezies werden mit ihrem eigenen Handlungspotenzial gezeigt.
 

Villa Schöningen
mit Ann Veronica Janssens, Isa Melsheimer, and Karin Sander

Blanc de Blancs, eine groß angelegte Gruppenausstellung mit Werken von Ann Veronica Janssens, Isa Melsheimer und Karin Sander, wird heute Abend, Freitag, 18. März, in der Villa Schöningen in Potsdam bei Berlin eröffnet. Die Ausstellung, die von Sonia González und Gregor Hildebrandt kuratiert wurde, ist bis zum 8. Mai 2022 zu sehen.
 

Liam Gillick

Stills: Liam Gillick & Gelitin, Stinking Dawn, 2022, film, duration: 92 min. © the artists
Stinking Dawn - ein Film von Liam Gillick und Gelitin - untersucht die Limits menschlicher Toleranz im Angesicht von Unterdrückung, politischer Krise und exzessiver Selbsttäuschung, wo sich die Grenzen zwischen Körper und Welt in einem delirierenden und düster-komischen Spiegelbild der Zivilisation selbst auflösen.

2019 übernahmen Liam Gillick und Gelitin die Kunsthalle Wien und verwandelten sie in ein Filmset aus riesigen Styroporblöcken, die zu monumentalen Strukturen gestapelt wurden - komplett mit Mausoleum und Nachtclub. Der daraus entstandene Film ist ein radikales, improvisiertes Kollektivprojekt, das die Geschichte von vier Narzissten erzählt, die mit ihren eigenen Begierden kämpfen. Stinking Dawn erschafft eine Miniaturzivilisation mit einer barocken Körperlichkeit. Es ist ein Kampf zwischen Autonomie und dem Aufkommen der neuen Rechten, zwischen Freiheit und Unterdrückung. Stinking Dawn ist düster-humorvoll, transgressiv und politisch. Ein widerspenstiges, eigenständiges filmisches Werk - ein Kinoerlebnis, das seinesgleichen sucht.

CPH:DOX, Copenhagen International Documentary Film Festival
Vorstellungen: 25. März, 30. März und 3. April 2022
Tickets sind hier erhältlich
 

Reading Corner

<b>Liam Gillick</b>

Liam Gillick

in piedi in cima a un edificio: Film 2008-2019 | Standing on Top of a Building: Films 2008-2019
2020
Verlag: Arte’m / Madre Napoli
Sprachen: Italienisch, Englisch

Available here

<b>Liam Gillick</b>

Liam Gillick

Half a Complex
2019
Verlag: Hatje Cantz
Sprache: Englisch

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<b>Grönlund-Nisunen</b>

Grönlund-Nisunen

Grey Area
2017
Verlag: The Finnish Art Society
Sprachen: Englisch, Finnisch, Schwedisch

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<b>Ann Veronica Janssens</b>

Ann Veronica Janssens

Endless Andness: The Politics Of Abstraction According To Ann Veronica Janssens
2013
Verlag: Bloomsbury Academic
Sprache: Englisch

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<b>Jac Leirner</b><br>

Jac Leirner

in conversation with Adele Nelson
2011
Herausgeber: Fundación Cisneros/Colección Patricia Phelps de Cisneros
Sprachen: Englisch, Spanisch

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<b>Jac Leirner</b><br>

Jac Leirner

Add It Up
2017
Herausgeber: Fruitmarket Gallery
Sprache: Englisch

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<b>Jac Leirner</b><br>

Jac Leirner

Wolfgang-Hahn-Preis 2019
2019
Verlag: Walther Koenig
Sprachen: Deutsch, Englisch

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<b>Isa Melsheimer</b>

Isa Melsheimer

Kontrastbedürfnis
2015
Verlag: Verlag für moderne Kunst
Sprachen: Deutsch, Englisch

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<b>Ari Benjamin Meyers</b><br>

Ari Benjamin Meyers

Tacet in Concert
Verlag: Corraini Edizioni
Sprache: Englisch

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<b>Roman Ondak</b><br>

Roman Ondak

Notebook
2012
Verlag: Hatje Cantz
Sprache: Deutsch

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<b>Roman Ondak</b>

Roman Ondak

History Repeats Itself
2017
Verlag: Verlag der Buchhandlung König
Sprachen: Dänisch, Englisch

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